Poesie der Bilder, Ritual der Malerei
Text zur Ausstellung: "Erinnerung - wie die Zeit ein Bauwerk wird" in der Galerie Kooio in Innsbruck im Oktober 2019
Der Begriff „Kunst“ erscheint mir manchmal irreführend, weil er ein Werk auf die Kunstfertigkeit seines Schöpfers oder seiner Schöpferin reduziert und es mit dem Preis, der dafür verlangt, der damit erzielt wird, in Beziehung setzt. Die Frage nach dem materiellen Wert eines Werkes führt meines Erachtens am eigentlichen Sinn der kreativen Arbeit vorbei. Deshalb gefällt mir der Vorschlag von Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle, statt dem Wort „Kunst“ den Begriff „Poesie“ zu wählen. Denn Poesie will nicht in erster Linie Botschaften übermitteln, sie will berühren. Sie erklärt uns nicht die Welt, sie gibt uns keine Antworten, sondern wirft Fragen auf. Sie will nicht mein Können als Künstler unter Beweis stellen, sondern fordert mich heraus, verlangt mir alles ab, sie will über sich selbst hinaus wachsen, und fordert und fördert damit mein Wachstum als Künstler und - was noch viel wesentlicher ist - als Mensch.
Ich muss Bilder malen, um mein Leben zu verstehen, poetische Texte schreiben, um meine Bilder und mich selbst zu verstehen, mich mit anderen Menschen austauschen, darüber sprechen, wie es uns wirklich geht, um all das zu verstehen. Und die Bewältigung der Herausforderungen des Lebens kann besser gelingen, wenn ich mich in der Ausübung von Ritualen und schamanischen Praktiken an die Kräfte wende, die größer sind als wir. Dies ist wiederum eine wesentliche Inspirationsquelle für poetische Texte und Bilder. Byung Chul Han schreibt in seinem jüngsten Buch „Vom Verschwinden der Rituale“: „Sie (Rituale) machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. Sie sind in der Zeit das, was im Raum eine Wohnung ist, sie machen die Zeit bewohnbar, begehbar wie ein Haus. Sie ordnen die Zeit, richten sie ein.“
Was Rituale und künstlerische Werke miteinander verbindet, ist der zentrale Stellenwert des Symbols. Als Zeichen der Wiedererkennung unter Gastfreunden (griechisch symbolon) erinnert es daran, was sie miteinander verbindet und lenkt den Blick auf das Bleibende, Fortbestehende. Gleichzeitig helfen die Rituale wie auch die kreative Arbeit, die Poesie uns Menschen dabei, die alten, festgefahrenen Muster aufzulösen, die unsere Herkunftsfamilien prägen, in denen wir uns gefangen fühlen, von denen wir uns befreien wollen. Sie schaffen das, indem sie Vergessenes, Verdrängtes in Erinnerung rufen, Gefühle, die aufgestaut waren, ins Fließen bringen, indem sie uns irritieren, Festgefahrenes durcheinander bringen, und damit die Grundlage für Veränderung schaffen.
So steht die Poesie der Texte und Bilder in Beziehung zum Leben eines einzelnen Menschen, zu den geistigen Kräften, die er in Ritualen anruft, und zu der Kultur und Gemeinschaft, der er sich zugehörig fühlt.
Diese Ausstellung ist ein Versuch, zwei verschiedene Zugänge der Malerei miteinander zu verbinden:
Da wäre zunächst einmal das bewusste Auswählen und Arrangieren von Motiven und Symbolen, mit Orientierung an klassischen Stilen der Kunstgeschichte. Es ist ein Übungsfeld für das handwerkliche Geschick und ein Forschen, Ausprobieren und Suchen, eine Erinnerung daran, in welche Geschichte ich mich als Künstler einordnen und worauf ich aufbauen kann.
Der andere Zugang ist sehr intuitiv. Erst im Prozess des Zeichnens oder Malens zeigt sich, was hier entstehen will, in den allermeisten Fällen sind es Gesichter, die etwas zum Ausdruck bringen wollen. Sie entstehen wie von selbst. In wenigen Minuten oder Sekunden landen sie auf dem Papier. Sie sind sehr persönlich und erinnern daran, welche Stimmungen, welche Gefühle, welche Regungen noch im Verborgenen wirken, welche Baustellen noch unvollendet sind.
In der westafrikanischen Tradition der Dagara ist das Jahr 2019 ein Jahr der Mineralien, ein Jahr der Berge, der Felsen, Steine und Knochen. In ihren Strukturen sind uralte Geschichten gespeichert, sie bewahren Erinnerungen weit über ein Menschenleben hinaus. In ihnen finden sich Spuren aus einer Zeit, die so weit zurück liegt, dass wir uns nur vage vorstellen können, was damals geschehen sein mag.
Deshalb habe ich die Erinnerung zu meinem Motto dieses Jahres gemacht. Deshalb ist sie Thema dieser Ausstellung. Erinnerung als eine Kraft, die uns festhält und bindet an unsere eigene Geschichte, die Geschichte unserer Familie, die Geschichte unserer Kultur, mit ihren vielfältigen, vielgestaltigen Wurzeln und Ausprägungen. Erinnerung als eine Kraft, die dem Fortstürzen der Zeit entgegenwirkt, da sie wächst, wie ein Bauwerk, ein Haus das bewohnt wird, von den Geistern derer, die uns vorausgegangen sind, von denen die uns nachfolgen und hoffentlich überholen, überflügeln werden und schließlich von uns selbst.
Die Bilder sind Momentaufnahmen die uns überdauern werden. Sie sind meistens klüger als die Person, von der sie geschaffen wurden. In jedem Menschen lösen sie etwas anderes aus, da jeder Mensch sein eigenes Universum in sich trägt. Die Texte, die ich den Bildern hinzugefügt habe, erzählen mehr über mich als deren Betrachter, weniger über die Bilder selbst. Sie sollen die Bilder nicht erklären oder beschreiben. Genauso wenig sind die Bilder Illustrationen des Geschriebenen. Texte und Bilder bringen in ihrer jeweils eigenen Sprache zum Ausdruck, was mich in Bezug auf das Thema bewegt. Es sind Versuche sichtbar und damit begreifbar zu machen, was im Verborgenen wirkt, eine Sprache zu finden für etwas, das meine Wirklichkeit mitbestimmt und lange dominiert hat. Doch wer glaubt in den Texten und Bildern ein echtes, authentisches Abbild ihres Schöpfers zu finden, der sei gewarnt. Denn in der Malerei wie im Schreiben wird alles zur Fiktion. Was hier zu sehen ist, hat so nie existiert. Was hier geschrieben steht, vermag maximal einen kleinen Ausschnitt aus einer vergangenen Wirklichkeit zu beschreiben, wie sie heute - im Blick zurück - gesehen werden kann. Um es mit Doron Rabinovici zu sagen:
„So hat es zu sein,“ verkündet die Politik, „So war es,“ mag die Geschichte behaupten, die Literatur sagt bloß: „So wird es wohl gewesen sein.“
In diesem Sinne ist das, was hier gezeigt und gesagt wird, nie der Weisheit letzter Schluss. Es ist Teil eines Bauwerkes, das unvollendet ist - work in progress. Es darf also, es soll kritisch betrachtet, hinterfragt, in frage gestellt werden - ohne Diskurs wäre das Denken ein Irrtum.
Das Ich im Wandel der Bilder
Text zur Ausstellung: "Das Ich im Wandel der Bilder" in der Galerie Kooio in Innsbruck im Oktober 2020
Ich male Bilder
vom Wandeln auf einem Pfad,
der mich verwandelt,
und mit mir mein Verwobensein mit der Welt,
in ihm vollzieht sich der Wandel der Bilder.
Wenn wir uns auf Rituale und schamanische Praktiken einlassen, wenn wir uns in den rituellen Räumen an Kräfte wenden, die größer sind als wir, öffnet das die Möglichkeit für heilsame Veränderungen, für neue Blicke auf alte Geschichten, für Distanzierungen von Bildern, die wir uns voneinander und von uns selbst gemacht haben. Das Malen von Bildern, wie auch das Schreiben poetischer Texte steht in meinem Schaffen in enger Verbindung zu einem Weg der Rituale und der schamanischen Praktiken, den ich zu gehen versuche. Es bietet die Möglichkeit Antworten zu geben auf die Fragen, die das Leben aufwirft, und immer wieder auf neue Fragen zu stoßen, die mich weiter bringen, es bietet die Möglichkeit Schritte ins Unbekannte zu wagen und an ihren Herausforderungen zu wachsen.
Diese Ausstellung soll Einblicke in diese Erfahrungswelt ermöglichen. Hier können sie Bilder sehen, die sehr intuitiv und spontan entstanden sind, in denen Gefühle und Stimmungen ihren Ausdruck finden, in denen alte Geschichten aufgearbeitet werden. Andere Bilder entstehen im Kontext von Ritualen, erzählen von Begegnungen mit der geistigen Welt, in denen die alten Gefühle oder Stimmungen verwandelt werden. In Zeiten wie diesen, in denen Angst und Verunsicherung um sich greifen, ist es mir wichtig, den beunruhigenden Entwicklungen etwas entgegenzusetzen, das lebendig ist und hoffnungsvoll, und uns dennoch nicht wegschauen lässt, wenn sich schlimmes ereignet oder Unrecht geschieht. In Zeiten wie diesen, in denen wir immer wieder auf uns selbst zurück geworfen werden, in denen wir aufgefordert sind uns zu entscheiden, welche Werte wir unsere eigenen nennen wollen, spielt der Wandel, dem das Ich unterworfen ist, eine besondere Rolle. Er ermöglicht uns, uns selbst treu zu bleiben, weil das Ich nichts statisches ist, weil es in seiner Natur liegt, sich zu verändern, sich zu entwickeln, und weil die Verhinderung von Entwicklung ganz wesentlich dazu beitragen kann, dass Menschen nicht mehr sie selbst sein können.
Ich glaube, dass Kunstwerke berühren wollen, und dass Berührungen wesentlich dazu beitragen, dass wir uns verwandeln, zu den Persönlichkeiten werden, die wir sind. In Zeiten wie diesen, in denen die sogenannte soziale Distanz gefordert wird, um die Ausbreitung einer Krankheit einzudämmen, spielt es eine besondere Rolle, ob und wie weit wir in der Lage sind einander zu berühren oder uns berühren zu lassen, von dem, was Menschen hervorbringen, oder von dem, was die Natur hervorbringt, von der wir noch immer ein Teil sind. Der Biologe und Philosoph Andreas Weber schreibt, dass Berührungen das Grundgerüst der Wirklichkeit sind. Sie hinterlassen Spuren, bewirken Beziehungen, wecken Interessen, lassen die Ebene der Bedeutungen einziehen. „Auch wenn jeder Kontakt zufällig ist, die Folgen sind es nicht. Berührung ist unvermeidlich, und die auf sie folgende innigere Verflechtung des Netzwerkes von Beziehungen, das die Wirklichkeit ausmacht, ebenso. (…) Alles, was von dieser Welt ist, sehnt sich nach weiteren Berührungen, um stärker und inniger bezogen und damit tiefergehend selbst zu sein.“
Verrücktheit auf der Flucht
Beitrag zur Aktion: „Fair Dreht - Inn-Aktiv“ von Stephan Pirker, Im November 2015
Ich denke in letzter Zeit oft an die Geschichte von Prokrustes, eine Sage aus dem alten Griechenland, die uns daran erinnert, was uns begegnet, wenn wir danach streben, so zu werden, wie die Leute, die als erfolgreich, berühmt, anerkannt, angenommen, akzeptiert gelten, wenn wir zu diesen Leuten gehören, von ihnen angenommen werden wollen. Wenn wir die Idee von einem Ziel haben, so schreibt die Psychiaterin und Autorin zahlreicher Bücher Jean Shinoda Bolen , wenn wir ein Gefühl haben, das uns mehr über ein Reiseziel als über die Reise sagt, dann stoßen wir auf den Mythos von Prokrustes und seinem Bett.
„Reise nach Athen“, so nannten die alten Griechen den Weg zum Erfolg. Athen war die Stadt der Berühmten, der Einflussreichen, der Mächtigen, die Bühne der Stars, der Ort, an dem große Entscheidungen gefällt wurden. Wer sich auf die Reise nach Athen begab, der traf irgendwann, daran führte kein Weg vorbei, auf Prokrustes. Dieser führte die Reisenden zu seinem Bett, das als Maßstab dafür diente, ob man für einen Aufenthalt in Athen geeignet war oder nicht. Was an den Reisenden zu lang war, wurde abgeschnitten, was zu kurz war wurde gestreckt.
Was liegt näher, als die Verbindung zwischen dem Mythos von Prokrustes und den traumatisierenden Erfahrungen, die Flüchtlinge erleben müssen, wenn sie von einem kriegsgeschüttelten oder einem von Hunger und Armut gebeutelten Land aufgebrochen sind, um den Weg nach Europa zu bewältigen? Wenn sie an der Grenze zu diesem Europa stehen, das Wohlstand, menschenwürdigere Lebensbedingungen und so etwas wie eine neue Lebensperspektive verspricht. Wenn sie dort angekommen geprüft werden, ob sie die richtigen Flüchtlinge sind, ob die Gründe für die Flucht in unseren Augen die richtigen oder die falschen sind, ob sie unseren Vorstellungen entsprechen, wie Menschen in Europa sein sollen, wie sie sich zu verhalten haben, welche Sprache sie sprechen sollen, welche Bildung sie nachweisen können, welche Kriterien sie erfüllen müssen, damit wir sie akzeptieren und für „ausreichend normal, ausreichend angepasst“ erachten.
Was muss geschehen, damit wir endlich erkennen, dass der Flüchtlingsstrom keine Horde von Kriminellen ist, die Europa böswillig überschwemmt?
Sie sind keine Terroristen, sondern fliehen vor dem Terror. Terrorismus muss, so glaube ich anders bekämpft werden, als mit Überwachung, Kriegen und Grenzzäunen.
Der Kanadische Theaterregisseur David Diamond, Entwickler des „Theatre for Living“, schreibt in seinem Buch „Theater zum Leben“: „ Es ist unmöglich diese Art von Taten mit immer noch mehr Gesetzen oder mit zunehmender, noch lückenloserer Überwachung zu stoppen, ganz egal, wo auf der Welt sie geschehen werden. Wir müssen aus den reduktionistischen und mechanistischen Denk- und Verhaltensmustern, die in uns die Vorstellung evozieren, alles sei von allem getrennt, aussteigen. Erst wenn wir beginnen, unseren Blick auf den lebendigen Organismus der gesamten Gemeinschaft zu richten - sei es eine Familie, oder zwei Völker auf engem geografischem Raum, oder diese mannigfaltige Familie, die die Erde bevölkert - und erst wenn wir verstehen, dass die Grenze, die wir zwischen Unterdrückern und Unterdrückten ziehen, eine künstliche ist, werden wir die Chance haben, den Ursachen, die diesen Taten zugrunde liegen, gegenüberzutreten, anstatt nur den Symptomen, den Taten selbst.“
Ist das, was wir mit den Flüchtlingen von uns fern halten wollen, die Konfrontation unseres wohlhabenden Europa mit einer Not, die durch Kriege des Westens verursacht wird?
Daran erinnert uns J.Todenhöfer in einem seiner Facebook Beiträge. Als Beispiel erwähnt er den Irakkrieg des George W.Bush, der 2003 zur Gründung der IS geführt hat. Und Europa hat doch auch einiges dazu beigetragen, dass der Krieg in Syrien so schlimme Ausmaße angenommen hat.
Ist die Xenophobie, die Angst vor dem Fremden, nicht eher eine Angst vor dem Vertrauten - eine Angst davor, dass Moslems in Europa ein Unheil anrichten, das dem ähnelt, was europäische Christen jahrhundertelang im Rest der Welt angerichtet haben (Kolonialisierung), oder dem, was europäische Großkonzerne heute im Rest der Welt anrichten (Globalisierung)?
Oder ist es die Angst davor, dass wir etwas an unserem Lebensstil ändern müssen? Das müssen wir so oder so, mit oder ohne Flüchtlinge?
Warum werden heute Ängste so sehr geschürt? Wer Angst schürt, hat möglicherweise Interesse daran, Menschen unter Kontrolle zu halten, der fürchtet sich selbst vor diesen Menschen, die er unter Kontrolle halten will, der fürchtet sich vor einer Lebendigkeit, die sich breit macht, wenn die Kontrolle wegfällt.
Was können wir tun?
Wir können den Flüchtlingen helfen, sie bei uns aufnehmen, und ihnen einen sicheren Platz geben, an dem sie unter menschenwürdigen Bedingungen Leben. Bis jetzt hat das noch keinem geschadet. Wir haben durch die Aufnahme von Flüchtlingen in unserem Land weder unsere Identität verloren, noch sind wir dadurch in irgendeine Notlage geraten.
Wir können Flüchtlingen legale Wege nach Europa ermöglichen. Dann können professionelle Hilfsorganisationen die Flüchtlinge unterstützen einen sicheren Weg nach Europa zu finden, dann braucht es keine Schlepper mehr, dann gibt es keine Ausbeutung der Menschen, die eh schon alles hinter sich lassen mussten, keine Lebensgefährlichen Transporte in LKWs, keine Todesopfer auf hoher See und kurz vor der Küste Lampedusas, keine zusätzlichen Traumatisierungen durch menschenunwürdige Bedingungen auf der Flucht bis kurz vor der Ankunft am Ziel,
Ich habe kein Rezept gegen den Terrorismus. Dennoch scheint mir die Aussage glaubwürdig, die sagt: Willkommenskultur ist eine wirksame Waffe gegen den Terror. Wer sich angenommen, respektiert fühlt, wird nicht zum Terroristen.
Ich glaube, dass wir uns unseren Ängsten stellen müssen, um zu wissen, wovor wir uns wirklich fürchten, um nicht Ängste zu übernehmen, die von einigen Medien und rechtspopulistischen Parteien geschürt werden.
Ich glaube, dass wir mutig sein müssen, unsere eigenen Ängste zu überwinden und die Lebendigkeit, die in uns selbst steckt, mehr anzunehmen und auszuleben, auch mit dem Risiko, nicht mehr ganz so angepasst zu sein, oder für verrückt gehalten zu werden.
Wir müssen wissen, was wir wirklich wollen, worum es uns wirklich geht, ob uns das Nulldefizit wirklich wichtiger ist als Menschlichkeit und Empathie.
Ich glaube, dass Empathie die wichtigste Fähigkeit ist, wenn es darum geht, unmenschliches zu verhindern.
Wenn ich Menschen sagen höre, dass diese Menschlichkeit sehr schön wäre, aber halt nicht umgesetzt werden kann, dann frage ich mich: Welche Prioritäten werden von diesen Menschen gesetzt? Was ist ihnen so wichtig, dass sie dafür bereit sind, Menschlichkeit zu opfern? Wofür nehmen sie Unmenschlichkeit in Kauf? Worauf müssen sie verzichten, wenn Menschlichkeit zur obersten Priorität wird?
Anderer
Ändere dich
Du bist so anders
Anderer
Ändere dich
Werde anders
Nicht mehr so anders
Anderer
Ändere dich
Werde ein Anderer
Ein ganz anderer Anderer
Ein nicht mehr so ganz anderer Anderer
Vogelmensch
Er ist jemand, der in uns wohnt,
jemand, den keiner kennt, da wir ihn verstecken
jemand, den wir selbst kaum kennen,
da wir uns vor ihm verstecken.
Er ist jemand, der sich nach Freiheit sehnt,
jemand, der sich entfalten will,
jemand, der gesehen, gehört werden will,
da er uns allen etwas zu sagen hat.
doch wir verstecken ihn,
da wir uns vor ihm fürchten,
da wir uns davor fürchten,
mit ihm gesehen zu werden.
keiner darf mit ihm gesehen werden,
auch die nicht, die nicht anders können,
als sich mit ihm zu zeigen,
sie werden von uns versteckt,
da wir uns vor ihnen fürchten,
da wir uns davor fürchten,
mit ihnen gesehen zu werden,
da wir uns davor fürchten,
als einer von ihnen angesehen zu werden,
da wir uns davor fürchten,
ausgegrenzt zu werden,
versteckt,
wie sie,
die wir verstecken,
da sie sich
mit ihm
zeigen,
nicht anders können,
als sich
mit ihm
zu zeigen,
mit ihm,
der in uns allen
wohnt,
der sich frei entfalten will
wie wir alle,...
Die Angst des reichen Mannes vor dem Bettler.
Beitrag zu „Herz Aus Stein - bettlefield Ibk
Projekt von Kata Hinterlechner, Daniel Jarosch, Stephan Pirker gegen das Bettelverbot (Stadtpotenziale Dezember 2018)
Hier sitzt ein Mann am Straßenrand zusammengekauert, zum Schutz vor der Kälte in eine Decke gehüllt, dort kniet ein junger Mann vornübergebeugt, seine Stirn berührt den Boden, die offenen Hände sind nach vorne gestreckt, ein paar Häuser weiter sitzt eine Frau auf dem Gehsteig, in der Hand hält sie einen Pappbecher, sie spricht leise murmelnd. Wir sind in der Stadt unterwegs, mein Sohn und ich, wir müssen noch ein paar Lebensmittel fürs Wochenende einkaufen, es ist schon spät, bald werden die Läden schließen. Bei der Bushaltestelle spricht mich ein Mann an, er zeigt mir eine leere Medikamentenpackung. Er braucht Geld, um diese Medizin für seine Mutter zu kaufen. Ich sehe in meiner Geldtasche nach, vielleicht hab ich noch ein paar Münzen. Gottseidank finde ich noch ein Fünzig-Cent-Stück, er nimmt es, fragt aber nach, ob ich nicht noch etwas mehr hätte, die Medizin sei sehr teuer. Leider Nein, sage ich, nehme meinen Sohn bei der Hand, und beeile mich die Straßenseite zu wechseln, um noch schnell zum Supermarkt zu kommen, oder vielleicht besser gesagt schnell fort von hier.
Wer sind diese Leute? Woher kommen sie? Tagtäglich gehen wir an ihnen vorüber. Anonyme Gesichter, Menschen ohne Namen. Wer kennt ihre Geschichten? Wer weiß, wer sie sind, und wie sie zu Bettlern geworden sind?
Haben sie sich vielleicht zu wenig darum bemüht, ein ganz normales, autonomes Leben zu verwirklichen? Wissen sie zu wenig darüber, wie man das macht? Sollen wir es ihnen erklären? Wir wissen das doch, oder? Heute kann doch jeder erreichen, was er will, wenn er sich nur ausreichend anstrengt? Wenn wir etwas nicht erreicht haben, dann sagen wir uns doch auch, wir hätten uns zu wenig darum bemüht?
Oder wollen sie dieses Leben, das wir führen, nicht? Wollen sie nicht arbeiten gehen, um sich ihr Geld zu verdienen? Das werfen wir ihnen vor: Arbeitsunwilligkeit. Wir sind doch davon überzeugt, dass jeder Arbeit bekommt, wenn er nur will.
Also fühlen wir uns von ihnen belästigt. Sie stören uns in unserer alltäglichen Wohlstandsbeschaulichkeit, halten uns auf in unseren immer dringenden Angelegenheiten. Sie konfrontieren uns immer wieder mit einer Wirklichkeit, die wir so nicht sehen wollen, ein andermal sicher gerne, doch gerade jetzt passt es leider überhaupt nicht.
Gerade jetzt passt es uns ganz und gar nicht, daran erinnert zu werden, was wir eigentlich schon lange wissen, dass dieses perfekte, selbstbestimmte Leben, zu dem wir uns aufgerufen fühlen, eine Illusion ist,
dass das was wir an Eigenständigkeit und Wohlstand erreicht haben, einen hohen Preis hat, den nicht in erster Linie wir selbst zu bezahlen haben, sondern viele andere Menschen,
dass keiner von uns davor gefeit ist, aus ihrem oder seinem bequemen Lifestyle hinauskatapultiert zu werden,
dass die Chancengleichheit, die bei uns so viel beschworen wird, nicht für alle gilt,
dass es dringend notwendig wäre, etwas daran zu ändern, weil es so nicht weiter geht…
Die Vorweihnachtszeit ist eine Zeit der großen Spendenaktionen wie Licht ins Dunkel, Bruder und Schwester in Not, Rettet das Kind,…doch an den Plätzen des Weihnachtsmarktes ist das Betteln verboten. Wir sollen unser Geld gerne spenden, um unser Gewissen kurzfristig zu ruhig zu stellen, doch beim Einkauf am Christkindlmarkt sollen wir den Bettlern nicht begegnen. Das ist schlecht fürs Geschäft, das schmälert die Kauffreudigkeit der Kunden. Wir sollen auf die Möglichkeit des Ablasshandels nicht verzichten müssen, doch die Empfänger der Almosen sollen unsichtbar bleiben. Sie sollen unser so harmonisches Selbstbild nicht durcheinander bringen mit ihrer Anwesenheit. Sie sollen unser Bild von einer homogenen Gesellschaft, die wir zu sein glauben, nicht stören, mit ihrer Andersartigkeit. Sie sollen unser Festhalten am Status quo nicht stören durch ihren Appel etwas zu ändern. Etwas an unserer Art zu leben,
oder etwas an uns selbst?
Der aufgerichtete Mensch
zur Ausstellung in der Galerie kooio 2022
Einsteigen möchte ich mit einem Zitat von Karl Kraus. Es stammt aus einer Vorlesung mit dem Titel „In dieser großen Zeit“, gehalten im November 1914, kurz nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges:
"In dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden, in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt. (…) Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, der trete vor und schweige!“
Will man Karl Kraus’ Gedanken in die Gegenwart übersetzen, stellt man die Vergleichbarkeit zwischen der Zeit am Beginn des ersten Weltkrieges mit der heutigen Zeit in den Raum, und das ist mit Sicherheit problematisch. Dennoch kann ich nicht umhin, die Warnungen des Schriftstellers von damals als notwendige Warnungen für unsere Gegenwart anzusehen. Die Krise, die durch die Pandemie ausgelöst wurde, hat gezeigt wie schnell wir die Orientierung verlieren, nicht mehr wissen, wem oder was wir glauben können, wie schnell wir uns im gleichen Augenblick dazu verleiten lassen, Menschen wegen ihrer Denkweisen, Weltanschauungen oder Verhaltensweisen zu bewerten, wie schnell unsere Urteile über andere vernichtend und entwürdigend wirken können. Die Klimakatastrophe zeigt uns, welche Auswirkungen unser Eingreifen in die Natur hat, und wie unmöglich es scheint ein Abkommen zu finden, das in der Lage wäre, diese Katastrophe wirksam einzudämmen. Wahrscheinlich werden wir dies verhindern, solange wir an einer Form des Kapitalismus festhalten, die sich die Erde untertan macht, indem sie sie ausbeutet, und sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitet. Die Antworten Europas auf den Krieg in der Ukraine zeigen, in welche Abhängigkeiten wir uns lieber nicht begeben hätten. Und mir fehlen die Antworten auf die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang: Wie kann es gelingen ein Ende dieses Krieges herbeiführen?
Der Satz „Wer etwas zu sagen hat, der trete vor und schweige“ ist - so meine ich - keine Aufforderung zu verstummen, keine Aufforderung, all das hinzunehmen ohne darauf Antworten zu geben. Dies wäre eine Missdeutung des Schweigens, vor der uns die Worte des Schriftstellers bewahren wollten. Die Konsequenz, die Karl Kraus seinerzeit zog, war die Aufnahme der Arbeit an seinem großen Drama „Die letzten Tage der Menschheit“.
Vortreten und schweigen ist hier - wie ich meine - sehr wohl das Einnehmen einer Haltung zu den Ereignissen. In Momenten, in denen es uns die Sprache verschlägt, ist es wahrscheinlich am passendsten, diese Sprachlosigkeit zum Ausdruck zu bringen, und einzugestehen, dass wir jetzt keine schnelle Lösung parat haben. Die schwierigste Herausforderung, die wir - so glaube ich - heute meistern müssen ist es, auszuhalten, dass heute so vieles wegbricht, was uns lange Zeit Orientierung gegeben hat, dass plötzlich nicht mehr ganz so klar ist, was jetzt richtig, was falsch ist. Umso wichtiger ist es, einander als Menschen wahrzunehmen, die ihre Geschichten durchgestanden haben, umso wichtiger ist es miteinander ins Gespräch zu kommen, gemeinsam herauszufinden, welche Beziehung wir zu den Ereignissen eingehen wollen, welches Urteil wir uns darüber bilden wollen, wie wir darauf antworten wollen. Wenn wir vortreten, innehalten und schweigen, können wir hinhören und Zeugnis ablegen darüber, was wir wahrgenommen haben, dann haben wir vielleicht die Chance, gemeinsam das Denken in unserer Gesellschaft so mitzugestalten, dass es der Komplexität der Lage gerecht wird. Lasst uns gemeinsam Räume gestalten, in denen wir Menschen einander mit Menschlichkeit begegnen, und jene Räume sichtbar machen, in denen dies jetzt schon geschieht.
Das Malen von Bildern könnte man beschreiben als einen Versuch mich im Vortreten und Schweigen zu üben. Ich trete in Beziehung zu dem, was ich sehe, horche hin, nehme wahr, was mich anspricht, was mich berührt. Dies versuche ich in den Bildern festzuhalten. Dann überlasse ich das Sprechen den Bildern. Sie haben viel zu sagen, tun dies allerdings in einer Sprache jenseits der Worte. Unaussprechliches will zum Ausdruck gebracht werden, unsagbares will sich Gehör verschaffen, und findet schließlich in der Sprache der Formen und Farben ein geeignetes Werkzeug dafür, etwas auszudrücken, das sonst im Verborgenen bleiben würde. Gleichzeitig wird durch das Fehlen der Worte vieles verhüllt, bleibt rätselhaft und lässt uns mit offenen Fragen zurück. „Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel;“ schrieb Theodor Adorno, „das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt man den Rätselcharakter unter dem Aspekt der Sprache.“
Diese Ausstellung ist von Kontrasten geprägt, von einer Gegenüberstellung oder einer Begegnung. Gesichter begegnen Figuren. Intensiver Ausdruck trifft auf zaghafte Versuche sich wieder zu zeigen. Allen in den Bildern zu sehenden Menschen gemeinsam ist, dass sie eine Geschichte hinter sich haben, die gewiss nicht einfach war, dass sie alle ihre Krisen durchgemacht haben. In ihre Züge haben sich die unterschiedlichsten Ereignisse eingeschrieben, aus ihnen sprechen die vielfältigsten Gefühle und Empfindungen. Sie erzählen ihre Geschichten nicht, sondern zeigen Spuren des Vergangenen, Spuren der Versuche, Antworten auf Fragen zu finden, Spuren einer Gegenwart, eines In-die-Welt-gestellt-Seins. All das, was sie zeigen, berührt uns und bewegt etwas in unserem Inneren. Gerade eben haben sie sich aufgerichtet, versuchen wieder auf eigenen Beinen zu stehen, überlegen noch, ob es gelingen kann ein paar vorsichtige Schritte nach vorne zu wagen. Es scheint, als hätten sie das Schlimmste überstanden, als könnten sie hoffen auf eine etwas bessere Zukunft. Doch Gewissheit gibt es keine.